Reportagen

Menschen. Leben.

Unsere Reportagen für Mission Leben porträtieren Menschen und Momente, die dem Geist des Sozialunternehmens Ausdruck verleihen. Das zutiefst Menschliche bleibt dabei oft unaussprechlich: Es wohnt zwischen den Zeilen.

Reportage | Mission Leben Jahresbericht 2015/2016

Unter Tränen lachen

Trauerarbeit hat in unserer Einrichtung Aumühle für Menschen mit Behinderung ihren festen Platz. Dabei sind alle Menschen willkommen und alle Gefühle erlaubt.

Es wird bald Frühling. Zumindest zwitschern die Vögel auf dem Wixhäuser Friedhof, was das Zeug hält. Die ersten Primeln zieren das Grab der Aumühler, das hier unter den Bäumen liegt. Mehrere kleine Grabsteine, ein Weg, der auch mit dem Rollstuhl befahren werden kann, Kerzen, ein Teddybär, der an einem Stein lehnt – die relativ große Grabstätte macht einen ganz lebendigen Eindruck. „Genau das ist sie auch“, sagt Einrichtungsleiterin Marion Ploner. „Ein Ort der Erinnerung, der von vielen unserer  Bewohner regelmäßig besucht wird.“ Denn hier liegen Freunde, Bekannte, Mitbewohner/-innen – Menschen, die oft einen großen Teil ihres Lebens in der Aumühle verbracht haben, hier zu Hause und in der Gemeinschaft aufgehoben waren. Seit 2013 gibt es dieses Grab wie auch die aktive Trauerarbeit in der Aumühle. Die erste Generation Menschen in der Aumühle ist alt geworden.

„In den letzten fünf Jahren wurde Sterben bei uns ein Thema“, erzählt die Leiterin der Tagesstruktur Wohnen Christina Thomas-Krehle. Sie ist so etwas wie die „Expertin für Trauer“ in der Aumühle, hat sich intensiv mit Sterbe­begleitung und Trauerarbeit befasst. In einem festen Gruppentermin und in Einzelgesprächen bietet sie den Menschen in der Aumühle die Möglichkeit, ihre Gefühle und Ängste rund um die Themen Tod und Verlust zu bearbeiten. Und auch wenn die Anlässe traurig sind: Der Umgang mit dem Sterben hat viele Gesichter. „Wir weinen, weil wir traurig sind, und wir lachen, wenn wir uns an einen lustigen Moment mit dem Verstorbenen erinnern“, erzählt Christina Thomas-Krehle. „Lachen und Weinen liegen oft ganz nahe beieinander – beides befreit die Seele.“

Trauer hat in der Aumühle ihre festen Rituale und einen Platz mitten im Leben. Stirbt ein Aumühler, wird das in einer Versammlung bekannt gegeben und ein Trauertisch wird aufgebaut, auf den Freunde, Mitbewohner/-innen und Mitarbeitende dann Erinnerungsstücke und Gaben legen. Ein selbstgemaltes Bild, ein Foto, ein Geschenk. Der Tisch zeigt, was der Verstorbene mochte, gibt Anlass zum Gespräch und zur gemein­samen Erinnerung. Ganz ähnlich ist es beim Trauergottesdienst, dem ein christlicher Pfarrer vorsteht. Lieblingsgegenstände, Fotos, Utensilien, die vom Leben des Verstorbenen erzählen, werden am Sarg aufgebaut. „Wir erinnern uns an gemeinsam Erlebtes, an die Eigen­heiten und guten Seiten des Menschen. Wir singen die Lieder, die wir gerne zusammen gesungen haben. Und wir lachen miteinander – auch unter Tränen“, veranschaulicht Christina Thomas-Krehle die Trauerzeremonien.

Die ersten Trauergottesdienste dieser Art gab es in der Aumühle vor vielen Jahren, und anfangs haben sie bei manchen Gästen durchaus Befremden ausgelöst. Lachen bei einer Trauerfeier? Fröhliche Lieder im Angesicht des Verlustes? Kuscheltiere und Kekse rund um den Sarg? Doch gerade das hohe Maß an Feinfühligkeit und Empathie macht die „Aumühlen-Trauerfeiern“ zu etwas Besonderem, das inzwischen über die Einrichtung hinaus bekannt und anerkannt ist. „Wir kennen die Menschen und ihre Biografien hier ganz intensiv“, begründet Marion Ploner eine wichtige Qualität ihrer Trauerarbeit. „In unseren Trauerfeiern holen wir die Verstorbenen noch einmal ins Leben, in unsere Mitte.“

Akute Sterbefälle waren ursprünglich der Anlass für das Entstehen der Trauergruppe in der Aumühle. In den regelmäßigen Treffen werden inzwischen aber auch andere Verlustängste besprochen. Was wird, wenn meine Eltern sterben? Wie wird es, wenn ich alt werde, wenn meine Kräfte schwinden? „Reden ist ganz wichtig“, weiß Christina Thomas-Krehle. „Aber auch Vertrautheit und Nähe. Oft sitzen wir hier zusammen in unserem Entspannungs­bereich. Wir machen es uns gemütlich und sitzen so, dass man sich trösten kann, wenn jemand weinen muss. Viele Menschen hier haben so etwas wie eine lebenslange Trauer in sich, die manchmal schon in der Kindheit begründet liegt. Oft braucht es nur einen Auslöser, um das wieder an die Oberfläche zu spülen.“ Dass sich Christina Thomas-Krehle für Trauerarbeit begeistern kann, war nicht immer so: Früher fand sie dieses Thema eher schwierig. „Aber es hat mich beeindruckt, wie hier mit Trauer umgegangen wird: offen, einfühlsam, tröstlich. In der Trauer ist man so verletzlich. Das darf hier jeder zeigen, ob Bewohner oder Mitarbeitender.“

Das liegt auch an der Erfahrung im Umgang mit Trauer. Ob Freund oder Familienmitglied – fast jeder Mensch in der Aumühle hat bereits einen nahestehenden Menschen verloren und weiß, worum es geht, wenn von schwerer Krankheit, Alter, Tod und Sterben die Rede ist. Dass ein Abschied kommt, dem man ins Auge sehen muss, dass eine Grabstätte gefunden werden muss. Genau aus diesem Gedanken heraus ist die gemeinsame Grabstätte entstanden, die auf dem Wixhäuser Friedhof, ganz nah dem Gelände der Aumühle, liegt. Viele Bewohner möchten hier begraben werden. Sie wollen sich das, was nach ihrem Tod ist, nicht an einem anderen Ort vorstellen. Das liegt daran, dass ihnen die Aumühle Lebensmittelpunkt und Zuhause ist. Das liegt aber auch daran, dass hier niemand vergessen wird. Dass die Erinnerung an die Verstorbenen in der Aumühle ihren festen Platz im Leben hat. Ein klitzekleines Stück Unsterblichkeit. Gemeinsam lachen – über den Tod hinaus.